Hans Sedlmayr - Verlust der Mitte

In den ungeheuren Kampf zwischen dem Geist, der tötet, und dem Geist, der lebendig macht, der heute überall im Gange ist - greift dieses Buch mit eigenen Gedanken und entscheidenden Ergebnissen ein.
Das scheinbare Chaos der vielfältigen Kunstrichtungen des 19. und 20. Jahrhunderts wird von den Wurzeln her durchschaut. Die innere Einheit und Einzigartigkeit der Epoche tritt hervor. Ihre Signatur ist Zerspalten des organisch Zusammengehörigen. Ob man auf die Aufgaben der Kunst blickt, auf den verlorenen Stil, auf das Verhältnis der Künste zueinander: überall heißt die Diagnose: Verlust der Mitte. Diese symbolische Betrachtung der Kunst (zu der die prägnant ausgewählten Abbildungen gleichsam anleiten) erweist sich als ein neuartiges und unvergleichliches Instrument zur Erkenntnis des modernen Geistes. In ihrem Lichte zeigt sich die Störung unmittelbar, gleichsam wie auf einem Röntgenschirm. Die von anderen intuitiv gewonnene Diagnose: Entmenschlichung" wird bestätigt, zugleich aber genauer bestimmt: der Menschengeist ist in diesen Jahrhunderten ,abgefallen", hinab zum Toten, oder noch tiefer: zum Chaotischen.
Auch der Mensch hat seine wahre Mitte verloren.
Am Ursprung der modernen Kunst wird ihr geistesgeschichtlicher Zusammenhang mit der Geburt des vermeintlich ,,autonomen' Menschen sichtbar: mit dem Deismus, Phanteismus und Atheismus. Diese unverbindlichen erweisen sich in der Erhellung durch die Kunst als Masken für neue geglaubte Götter und Götzen; die da sind: die Natur, die Kunst, die Maschine, das All, das Chaos und das Nichts. Ihr Kult bestimmt auch die Formen der Kunst.
Diese theoretische Erkenntnis genügt aber nicht: ,,die wahre Erkenntnis muß praktisch sein, sie muß zu einer sittlichen Umgestaltung des Lebens aufrufen, zu einer Umwertung der Werte bewegen". Wenn es die wesentlichste Aufgabe unserer Zeit ist, aus der Erkenntnis der Störung die Erkenntnis der normalen, gesunden und harmonischen Zustände zu entwickeln und zu verwirklichen, so ist dieses Buch nicht nur ein konkreter Beitrag zur Therapie der Zeit, sondern selbst schon einer sich anbahnenden Gesundung.
In der schon allzu zahlreich gewordenen Literatur zur Krise der Zeit sichert ihm das einen eigenen und dauernden Platz.